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Kirchseeon, 04.11.2025

„Einsatzbereitschaft auf dem Papier – im Ernstfall kommt nur die Hälfte“
Neue DGKM-Studie entlarvt gefährliche Lücken im Bevölkerungsschutz

Deutschland verlässt sich im Katastrophenfall auf über 1,7 Millionen ehrenamtliche Helferinnen und Helfer – doch wenn es ernst wird, bleibt von dieser beeindruckenden Zahl erschreckend wenig übrig. Eine jetzt veröffentlichte Umfrage der Deutschen Gesellschaft für Katastrophenmedizin (DGKM) mit 3.681 aktiven Ehrenamtlichen offenbart: Nur rund ein Drittel der Einsatzkräfte ist jederzeit verfügbar, und real stehen im Ernstfall nur etwa 44 % der registrierten Ehrenamtlichen bereit.

Doppelrollen: Die stille Schwachstelle im System

Mehr als die Hälfte der Ehrenamtlichen arbeitet hauptberuflich in kritischen Infrastrukturen (KRITIS) – etwa im Gesundheitswesen, bei Versorgern oder in der öffentlichen Sicherheit. Im Krisenfall werden sie dort dringend gebraucht und können nicht gleichzeitig im Bevölkerungsschutz helfen. Manche engagieren sich sogar in mehreren Ehrenämtern gleichzeitig, stehen aber naturgemäß trotzdem nur an einem Ort zur Verfügung. Was auf dem Papier nach Stärke aussieht, entpuppt sich in der Realität als riskante Illusion.

Beruf vor Ehrenamt – mit Folgen für die Einsatzbereitschaft

Hauptgrund für die eingeschränkte Verfügbarkeit ist die berufliche Tätigkeit: 57,4 % der Befragten gaben dies als Hindernis an. Besonders Ärztinnen und Ärzte sind hiervon betroffen – sie arbeiten mit durchschnittlich 49 Wochenstunden am Limit und sind dennoch in den Konzepten des Bevölkerungsschutzes fest eingeplant. Eine bundeseinheitliche, verlässliche Freistellungsregelung existiert nur für das Technische Hilfswerk und die Freiwillige Feuerwehr; für Hilfsorganisationen herrscht ein Flickenteppich aus regionalen Sonderregelungen. Die Deutsche Gesellschaft für Katastrophenmedizin e.V. fordert daher jetzt eine bundeseinheitliche Helfergleichstellung.

Ein Weckruf für Politik und Gesellschaft

„Unsere Ergebnisse sind ein deutlicher Warnschuss: Wir müssen uns ehrlich eingestehen, was unsere Einsatzkräfte im Krisenfall tatsächlich leisten können“, so PD Dr. med. Andreas Follmann, Präsident der DGKM. „Wir täuschen uns selbst, wenn wir glauben, dass der Bevölkerungsschutz so einsatzbereit ist, wie er in den Statistiken aussieht. Im Ernstfall könnten wir feststellen, dass mehr Lücken als Helfer vor Ort sind – und das kann Menschenleben kosten. Wir müssen deshalb dringend mögliche Optionen zur Kompensation erforschen – etwa den gezielten Einsatz von Telemedizin – um trotz Personalmangel handlungsfähig zu bleiben.“

Zusammenfassung

Hintergrund

Häufigkeit und Komplexität von Krisen und Katastrophen nehmen stetig zu. In Deutschland ist der Bevölkerungsschutz föderal organisiert und basiert maßgeblich auf ehrenamtlichem Engagement. Besonders in kritischen Infrastrukturen (KRITIS) kommt es im Krisenfall zu einer hohen Arbeitsbelastung.

Ziel der Arbeit

Die Studie untersucht die Verfügbarkeit ziviler Einsatzkräfte im Katastrophenfall, insbesondere bei Personen mit Doppelrollen, z.?B. beruflich in KRITIS und ehrenamtlich im Bevölkerungsschutz, sowie die Auswirkungen von Doppelrollen und beruflichen sowie privaten Verpflichtungen auf die Einsatzbereitschaft.

Material und Methoden

Im Rahmen einer nationalen Online-Befragung wurden zwischen Juni und Oktober 2024 Ehrenamtliche aus dem Bevölkerungsschutz kontaktiert. Der Fragebogen erfasste demografische Daten, berufliche Tätigkeit, Engagement im Bevölkerungsschutz, Qualifikationen, Arbeitszeiten, Freistellungsoptionen und die Verfügbarkeit im Einsatzfall.

Ergebnisse

3681 vollständige Antworten wurden in die Auswertung eingeschlossen (N?= 3681). Die Befragten sind zu 52,2?% hauptberuflich in einer KRITIS angestellt, zudem besitzen 20,5?% aller Befragten mehr als ein Ehrenamt. Ärzt:innen engagieren sich zu 32,7?% in mehr als einem Ehrenamt. 30?% der Ehrenamtlichen sind im Katastrophenfall jederzeit verfügbar, 65?% nur eingeschränkt und 5?% gar nicht. Hauptgrund für die Nichtverfügbarkeit ist mit 57,4?% die berufliche Tätigkeit, insbesondere bei Beschäftigten im KRITIS-Bereich, und bei Ärzt:innen die hohe Arbeitsbelastung mit 49 Wochenstunden.

Diskussion

Die Ergebnisse zeigen, dass die Verfügbarkeit ziviler Einsatzkräfte im Katastrophenfall durch berufliche Verpflichtungen und Doppelrollen deutlich eingeschränkt ist. Besonders kritisch ist die Situation bei Beschäftigten in KRITIS und bei Ärzt:innen. Verfügbar sind demnach nur rund 757.140 der 1,7?Mio. (44,42?%) in Deutschland im Katastrophenschutz registrierten ehrenamtlichen Einsatzkräfte. Die geringe Freistellungsquote und der demografische Wandel verschärfen die Problematik. Für die Resilienz des Bevölkerungsschutzes sind gezielte Maßnahmen zur Entlastung und Nachwuchsgewinnung erforderlich.

Die DGKM fordert deshalb:
• Bundeseinheitliche Helfergleichstellung für alle Einsatzkräfte, unabhängig von der
• Systematische Erfassung von Doppelrollen und
• Maßnahmen zur Entlastung besonders belasteter Berufsgruppen, um die reale Einsatzfähigkeit zu erhöhen.
• Gezielte Nachwuchsgewinnung und attraktive Rahmenbedingungen

Fazit: Die Studie zeigt, dass der Bevölkerungsschutz in Deutschland auf wackligen Beinen steht. Ohne schnelle strukturelle Veränderungen drohen im nächsten Großschadensereignis nicht nur Versorgungslücken – sondern im schlimmsten Fall das Scheitern des gesamten Einsatzsystems.

Hier findet ihr die Publikation im Volltext:
https://dgkm.org/wp-content/uploads/2025/08/s10049-025-01610-8.pdf

(Quelle: DGKM – Deutsche Gesellschaft für Katastrophenmedizin e.V.)